Trusted Flagger


oder: alte und neue Namen für kleine unangenehme Zeitgenoss*Innen – Latein und Neudeutsch

«Trusted Flagger» durchsuchen das Internet im Auftrag der Bundesregierung nach unliebsamen Meinungen (Neue Zürcher Zeitung vom 08.10.2024)

Laut Umfragen haben mehr als die Hälfte aller Menschen in Deutschland das Gefühl, man könne seine Meinung nicht mehr frei äussern. Die jüngste Neuerung in diesem Bereich dürfte diesen Effekt noch verstärken. Um unliebsame Meinungen im Internet zu finden und zu beseitigen, gibt es jetzt sogenannte vertrauenswürdige Hinweisgeber. Sie melden nicht nur strafbare Inhalte, sondern auch erlaubte – und geben das offen zu.

Wörtlich bedeutet der Begriff «vertrauenswürdiger Hinweisgeber». Gemeint sind Organisationen, die das Internet nach problematischen Inhalten wie Hassrede oder terroristischer Propaganda durchsuchen und «illegale und schädliche Inhalte» bei den Plattformen melden. Die «Flagger» sind vom Staat als solche zugelassen und haben bei den Online-Plattformen Anspruch auf bevorzugte Behandlung. Plattformbetreiber wie Youtube, Instagram, Tiktok oder X müssen Meldungen von ihnen besonders schnell abarbeiten. Damit sollen die gefundenen «problematischen Inhalte» schnell entfernt werden können – schneller, als wenn normale Nutzer sie melden.

Liebe Leunaer,

oben aufgeführte Zeilen stammen aus der NZZ vom 08.10.2024. Der Artikel ist nicht nur lesenswert, sondern weckt Erinnerungen an vergangene Zeiten. Ich gebe zu, ich lese gerne Zeitung. Mittlerweile eine ausländische, wegen der Propaganda. Diese störte mich auch schon in meiner Jugend. Also habe ich damals lieber Westfernsehen geschaut, anstatt Sudel-Edes wöchentlicher Offenbarung zu lauschen.

Es beruhigt, dass ich, wie auch in jungen Jahren, zu der im NZZ-Artikel genannten Mehrheit gehöre.

Spionieren, Denunzieren und Zensieren. Schöne neue Welt… Früher brauchte man dafür viele Leute. Die eine Truppe horchte und guckte, gab vertrauliche Hinweise, schrieb Berichte, traf den Führungsoffizier… Die anderen Linientreuen saßen im warmen Büro und schrieben das, was sie für richtig und wichtig hielten. Das gemeine Volk musste schließlich auf Linie gehalten oder wieder gebracht werden – „betreutes Denken“.

Die Zensur gibt es schon sehr lange. Selbst die Römer kannten sie (censura). Der mächtige Ausübende, der Sittenwächter, war der Zensor. Nun soll es also etwas Neues geben. Die Kombination aus beiden „Berufen“ vereint in einer Person. Und dafür braucht man einen schönen Begriff. Trusted Flagger – modern und englisch.

„Vertrauenswürdiger Hinweisgeber“ hört sich nach Denunziant an. Auch „Blockwart-Propagandist“ oder „IM Agitator“ wirken altbacken. Klingt nicht gut, kommt einem irgendwie bekannt vor.

Über die Zensur im Stadtanzeiger Leuna hatte ich schon mehrfach geschrieben. Auch sie entwickelt sich weiter. Beiträge aus den Fraktionen und Leserbriefe wurden von der Bürgermeisterin bereits vor Jahren verboten. Ihr Nachfolger hält am bewährten Kurs fest, sieht aber Bedarf für Nachbesserungen.

Nun dürfen auch Ortsbürgermeister nicht mehr schreiben, was sie wollen, sie für wichtig halten, ihre Meinung kundtun. Es sei denn, sie loben über alle Maßen: die Verwaltung, die Verwaltungsspitze und die Spitze der Verwaltung.

Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob die einzelnen Ortsbürgermeister von sich aus in systemkonformer Weise schreiben oder vom Rathaus redaktionell begleitet werden – „betreutes Schreiben“.

Auf Seite 17 der Septemberausgabe 2024 des Stadtanzeigers finden Sie einen Beitrag aus und über Zweimen. Ein Beitrag, vom Amt redaktionell bearbeitet, da ansonsten ein falscher Eindruck beim Leser hätte entstehen können. Ein kleiner Artikel im Stadtblättl, von einem Ortsbürgermeister verfasst, wahrheitsgemäß und eigentlich völlig harmlos, musste nachgebessert werden.

In diesem Zusammenhang wird Ihr Beitrag wie folgt verändert veröffentlicht:

Absatz 1: „Ich danke hier an dieser Stelle besonders meinen neuen Ortschaftsrat, der bewiesen hat, dass wir ohne jegliche politische Animosität zusammenarbeiten können und die befohlene Brandmauer in Zweimen nicht existiert.

Absatz 5 Satz 3 wird entfernt: „Die Vorlage der Stadt kann man schon als skandalös bezeichnen.“

Wenn das zu lesen gewesen wäre… Weltuntergang? Zumindest in Leuna? Wenigstens in Zweimen?

Ist das schon Zensur oder einfach nur peinlich? Nun ja, vielleicht eine kleine Maßnahme der Zensur, ein Zensürchen (lateinisch censurela). Wir leben in einer Kleinstadt. Kleine Stadt – kleine Zensur.

Natürlich zensiert der Bürgermeister nicht selbst, er lässt. Von wem? Die richtige Zensur macht der Zensor. Und die kleine in der Kleinstadt? Wie wäre es mit „Zensorella“? Klingt doch niedlich. Gendergerecht ist es auch (eingedeutschtes weibliches Diminutiv). Und dazu sehr höflich; schließlich bedankt sie sich für Ihr Verständnis und steht für Fragen gern zur Verfügung.

Fazit: Wir sollten für die Weitsicht und Sorgfalt der Verwaltungsspitze dankbar sein. Sie hält Böses von uns fern. Gleichzeitig schützen uns die von oben verordneten Brandmauern – „betreutes Wohnen“.

Udo Bilkenroth

PS: übrigens arbeitet man stark daran, den „Honecker-Rekord“ einzustellen (Neues Deutschland bei Wikipedia: „Die Konzentration auf die Partei- und Staatsführung der DDR ging so weit, dass in einer Ausgabe vom 16. März 1987 anlässlich der Eröffnung der Leipziger Messe 43 Fotos von Erich Honecker … zu sehen waren.“)


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